Vermisstenanzeige

Föhnsturm im Urner Reussdelta, 22.10.2013

Föhnsturm im Urner Reussdelta, 22.10.2013

Vermisst wird seit Ende Oktober 2013 der Herbststurm. Signalement: Gross und kräftig, von gedrungener Statur. Manchmal feucht, manchmal kühl abweisend, manchmal warm, von aufbrausendem Charakter. Der Herbststurm trägt schmutzig-grüne Hosen und einen gelb-rot-braun gesprenkelten Anorak sowie eine Sturmhaube, eine bläulich verspiegelte Sonnenbrille und Gummistiefel. Er wurde letztmals Ende Oktober 2013 in den Alpen gesichtet und wird seither vermisst. Man vermutet einen aktuellen Aufenthalt im Raum Ostsibirien bis Kamtschatka, gelegentlich taucht er aber auch kurz an der Südspitze Grönlands auf. Der Herbststurm ist vermutlich orientierungslos und verwirrt und kann bei Reizung rasch ausser Kontrolle geraten und Schaden anrichten. Es wird daher um schonendes Anhalten und baldmögliche Überführung nach Europa gebeten, wo ihn Meteorologen und wetterbegeisterte Menschen herzlich empfangen werden.

Bis der Herbststurm gefunden ist, müssen wir uns im Alpenraum mit seinem kleinen Bruder zufrieden geben. Der Föhn nimmt heute Sonntag nach Durchzug der Warmfront stetig zu und erreicht am Montagnachmittag seinen Höhepunkt. In den klassischen Föhntälern ist mit Böenspitzen zwischen 70 und 90 km/h zu rechnen. Also kein aussergewöhnliches Ereignis, das eine detaillierte Sturmvorschau rechtfertigen würde. Auch das mit der Kaltfront am Dienstag verbundene Sturmfeld zieht nördlich der Schweiz durch, allenfalls werden im Hochschwarzwald Sturmböen erreicht. In exponierten Lagen des Mittellands und der Nordschweiz dürften 50 km/h die allerhöchste Grenze sein.

Wie schon in den letzten Jahren sind Herbststürme in diesem Jahr rar, bzw. erreichen nicht die gewohnte Stärke. Die Ursache ist in einer zunehmend in den Herbstmonaten gestörten Zirkulation der Nordhemisphäre zu suchen. Während der Nordatlantik normale bis leicht unterdurchschnittliche Temperaturen aufweist, ist der Arktische Ozean sehr warm. Sturmtiefs werden jedoch durch starke Temperaturgegensätze befeuert, diese fehlen im Herbst aufgrund der geringen Eisausdehnung und der überdurchschnittlichen Wassertemperaturen in der Arktis immer häufiger. Starke Gegensätze gibt es hingegen zwischen der relativ warmen Arktis und den bereits stark ausgekühlten Landmassen Ostsibiriens und Nordamerikas. Entsprechend bilden sich die Herbststürme dort und seltener über Nordeuropa. Die Karte mit den prognostizierten Temperaturabweichungen der arktischen und subarktischen Region für Dienstag gibt Aufschluss (für grössere Ansicht in die Karte klicken):

20161023-blog2Zusätzlich zu den Temperaturabweichungen zum langjährigen Mittel sind die Windströmungen in rund 1400 m Höhe dargestellt. Man erkennt ein extrem kräftiges und umfangreiches Sturmtief über Ostsibirien, das sehr warme maritime Luft vom Pazifik über die Beringstrasse ins arktische Becken verfrachtet. Dasselbe geschieht in etwas weniger geringem Ausmass durch ein Tief vor der Küste Ostgrönlands, auch hier werden milde atlantische Luftmassen nach Norden geführt. Als Ausgleich fliesst Kaltluft von der Nordküste Kanadas und Grönlands (dort, wo der arktische Eisschild noch kompakt ist) durch die Davisstrasse nach Süden auf das ostkanadische Festland.

Europa hingegen liegt weiterhin in einer Un-Wetterzone. Was im September mit dem verlängerten Sommer noch angenehm war, präsentiert sich im Oktober mit wenig Sonne, viel Wolken- und Nebelgrau, trotzdem wenig Regen und schon gar keinen Stürmen bei durchschnittlichen Tagestemperaturen von 10 Grad. Für den wetterinteressierten Menschen ist dieses Wetter etwa so prickelnd wie eingeschlafene Füsse. Sehr viel Hoffnung auf eine nachhaltige Änderung besteht derzeit nicht. Gelegentlich verirrt sich ein schwaches Tief zum sterben auf den europäischen Kontinent wie aktuell gerade, danach darf wieder längere Zeit gewartet und gerätselt werden, ob und wann die Zirkulation allmählich auf Winter umstellt und bei uns mal kräftig durchpustet. Bei den derzeitigen Verhältnissen im Hohen Norden sollte man sich nicht allzu viele Hoffnungen machen.

2 Gedanken zu “Vermisstenanzeige

  1. Merci für den interessanten Bericht.

    Die Temperatur in der Arktis wird ja mit der Klimaerwärmung stärker ansteigen als in anderen Regionen, womit die Temperaturgegensätze kleiner werden. Heisst das in dem Fall, dass in Zukunft in Europa noch weniger Stürme auftreten werden?

    • Hallo Thomas
      Dies ist zumindest die Theorie, ja. Die Wahrheit dürfte wohl wesentlich komplexer sein, denn gleichzeitig steigt mit der Erwärmung ja auch der Energiegehalt der Luft. Vermutlich wird es nicht weniger Stürme geben, sondern einfach andere (z.B. mehr Gewitter- als Sturmtiefs), sowie jahreszeitlich und geografisch anders verteilt. Die Forschung ist da noch nicht wirklich schlau geworden, da die Erwärmung der Arktis derzeit rasant schneller voranschreitet als modelliert. Ich bin zu wenig in der Klimaforschung drin, aber rein vom meteorologischen Verständnis her gehe ich davon aus, dass da noch etliche Überraschungen auf uns zukommen werden.

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